Frankfurt, 28.09.2016. Bahnlinien sind für Städte und Gemeinden eine unverzichtbare Infrastruktur, wenn sie Klimaschutz ernst nehmen und die Energie- und Verkehrswende umsetzen wollen. Von 1960 bis 2006 wurden in Hessen zahlreiche eingleisige Bahnstrecken und sogar ein Teilabschnitt (Darmstadt – Griesheim – Goddelau) einer zweigleisigen Hauptstrecke (nämlich der 1869 eröffneten ehem. Riedbahn Darmstadt – Worms) zuerst für den Personenverkehr, dann auch für den Güterverkehr, stillgelegt und meist abgebaut. Begründet wurde dieser massive Rückbau wichtiger Infrastruktur mit Argumenten wie „Behinderung des Motorisierten Individualverkehrs“ (MIV) durch Bahnübergänge, sinkender Fahrgastzahlen (meist durch Busparallelverkehr verursacht), Kosteneinsparungen durch vermiedene = unterlassene Investitionen(!), billigeren Lkw-Transporten, mangelnder Konkurrenzfähigkeit mit dem MIV, Unwirtschaftlichkeit u.v.a.. Die meisten dieser Argumente hielten weder damals noch heute einer Prüfung stand, vor allem zeugen sie von unglaublicher Kurzsichtigkeit der Akteure. Jüngstes Opfer war die Aar-Salzböde-Bahn (Herborn – Niederwalgern), deren Betrieb 2001 eingestellt wurde . 2006 wurde die Strecke unter den Augen des RMV entwidmet, abgebaut und seither von kommunalen Kirchturmpolitikern mit „modernen Errungenschaften“ wie Gemeindebauhöfen, Gewerbegebieten, Parkplätzen, Supermärkten, Umgehungsstraßen weitgehend zugebaut und unbrauchbar gemacht.
Seit der Bahnreform 1994 und der damit verbundenen Übertragung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) als Pflichtaufgabe vom Bund auf die Länder („Regionalisierung“) hat in den Köpfen vieler Planer und einiger Landespolitiker ein Umdenken stattgefunden, in der Kommunalpolitik jedoch fast nicht. Der Straßenverkehr im Rhein-Main-Gebiet kollabiert. Sofern die stillgelegten Schienentrassen planerisch gesichert und nicht irreversibel überbaut sind , bieten sie eine unersetzliche Ressource zur Lösung der heutigen Verkehrsprobleme, nämlich zusätzliche Verkehrs-Trassen in die Ober- und Mittelzentren, die auf der Straße nicht mehr geschaffen werden können. CDU und Grüne hatten im Koalitionsvertrag Hessen 2014-2019 vereinbart: „Bei vorliegendem Bedarf unter Nutzen-Kosten-Aspekten sollen Initiativen zur Reaktivierung von Bahnstrecken unterstützt werden“. 2014 hatte Hessen Mobil, Straßen- und Verkehrsmanagement, die Bestandsaufnahme „Stillgelegte Schienenstrecken für den Personenverkehr in Hessen – Ermittlung prüfungswürdiger Strecken“ erarbeitet. Das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (HMWEVL) hat die Bestandsaufnahme im Sommer 2016 an alle Verbünde NVV, RMV, VRN und Lokalen Nahverkehrsgesellschaften in Hessen versandt (s. Anlage, nicht veröffentlicht). Daraufhin fand am 9. Sept. 2016 im Wiesbadener Ministerium das Auftaktgespräch mit den Verkehrsverbünden und Nahverkehrsgesellschaften statt, in dem das weitere Vorgehen mit der Bestandsaufnahme diskutiert wurde.
Insgesamt wurden 96 Strecken und größere Streckenabschnitte ermittelt, auf denen der Eisenbahnverkehr eingestellt wurde! Die Kartendarstellung „Schienenstrecken und Status“ vermittelt die frühere noch größere Bedeutung der Eisenbahn für die Erschließung der hessischen Regionen. 65 Strecken und größere Streckenabschnitte wurden kategorisiert als „keine nähere Betrachtung, planerische Trassensicherung“, „keine nähere Betrachtung, abgebaut, Radweg, überbaut …“).
PRO BAHN Hessen begrüßt, dass die Bestandsaufnahme für 21 stillgelegte Strecken das Potential auf Reaktivierung als prüfungswürdig ansieht. Für 15 Strecken stellt die Untersuchung ein Potential für Personennahverkehr sowie für drei weitere ein Potential im Freizeitverkehr fest. Mehrere PRO BAHN- und VCD-Konzepte fanden erfreulicherweise Eingang in die Bewertung. Vermisst wird dennoch, dass der Teilabschnitt Treysa – Homberg (Efze) der Kanonenbahn (Teil der ehem militärstrategischen Strecke Berlin – Lothringen) kein Bestandteil der Bestandsaufnahme ist, obwohl auf ihm noch die kompletten Gleisanlagen vorhanden sind. Enttäuschend ist nach Ansicht von PRO BAHN außerdem, dass der zweite Teilabschnitt Homberg (Efze) – Malsfeld nur die niedrigste Bewertung „mit erheblichen Hindernissen für eine Reaktivierung“ erhalten hat, obwohl mit Ausnahme eines Bauwerkes noch alle Brücken- und Tunnelbauwerke vorhanden sowie in äußerlich sehr guten Zustand sind. Initiativen zur Reaktivierung gebe es. Diese sollten auch gemäß Koalitionsvertrag vom Land Hessen unterstützt werden und Niederschlag in der Bestandsaufnahme finden.
PRO BAHN Hessen kritisiert, dass die Anwendung des Verfahrens der Standardisierten Bewertung für solche Reaktivierungen ein untaugliches Instrument ist, da wesentliche Faktoren wie Klimaschutz, Lärmschutz, Feinstaubreduktion, nachhaltiger Tourismus kaum berücksichtigt werden. So wurde ergab sich jetzt z.B. für die Reaktivierung der Lumdatalbahn Lollar – Londorf in einem RMV-Gutachten ein Nutzen-Kosten-Faktor von 0,2, während eine Reaktivierung nur bei einem Faktor größer als 1 gefördert werden kann. Für Finanzierung und Betrieb können andernorts erfolgreiche Beispiele herangezogen werden. So bezuschusst Baden-Württemberg die Reaktivierung der Hermann-Hesse-Bahn Calw – Weil-der-Stadt mit 50% der Baukosten . Seit 13. Sept. 2016 fährt die Bayerische Eisenbahngesellschaft auf der Strecke Gotteszell – Viechtach einen zweijährigen Probebetrieb im Stundentakt(!) , während die 2015 reaktivierte hessische Strecke Korbach – Frankenberg nur im Zweistundentakt betrieben wird.
Abschließend fordert PRO BAHN Hessen das HMWEVL auf, die Untersuchung und die Ergebnisse der Besprechungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schließlich wurden der Bau, die Einstellung und die jetzigen Untersuchungen alle mit öffentlichen Mitteln finanziert. Auch sollten die Untersuchungen der Strecken vor Ort mit bahn-sachkundigen Personen aktualisiert werden, die z.B. die baulichen Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen. In die Nutzen-Kosten-Untersuchungen müssten heute wichtige Faktoren wie Klimaschutz, Lärmschutz, Feinstaubreduktion und nachhaltiger Tourismus einfließen.
Anlässlich der Überlegungen zur Reaktivierung von Bahnstrecken sollte es gestattet sein, auch über Neubaustrecken nachzudenken. Das Main-Taunus-Einkaufszentrum mit 170 Geschäften auf der grünen Wiese lockt täglich rund 40.000, an Spitzentagen bis zu 60.000 Besucher an, die mit bis zu 18.000 PKW anreisen. Die ÖPNV-Anbindung erfolgt bisher nur über fünf regionale Buslinien, während zwei naheliegende Bahnlinien daran vorbeiführen. Von Politik und Öffentlichkeit wird daher immer wieder eine Anbindung durch die Schiene gefordert. Drei Varianten wurden dabei geprüft, aber aus den verschiedensten Gründen verworfen. Eine vierte von PRO BAHN vorgeschlagene Linienführung, die eine nur 1,6 Kilometer lange von der Königsteiner Bahn abzweigende Neubaustrecke vorsieht, sollte ebenfalls untersucht werden